Bürgerpflicht
Muss man das heute alles machen?
Von der Gegenwart überholt
Klaus bekommt einen Brief von der Behörde, in dem ihm mitgeteilt wird, dass ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt werden soll, obwohl er sich zeitlebens vorbildlich verhalten hat. Ein klärendes Gespräch mit dem Beamten bringt die bittere Wahrheit ans Licht. Die Gegenwart hat Klaus überholt. Will er Teil der Gesellschaft bleiben, reicht es nicht, wenn er immer nur brav die Steuern zahlt. Er muss eine wichtige Sache tun.➯ Buch bei Amazon bestellen
Kurzgeschichte: Bürgerpflicht
Betreff: Aberkennung Ihrer Staatsbürgerschaft
Sehr geehrter Herr Klaus Gärtner,
aufgrund Ihres unsozialen Verhaltens fügen Sie der Wertschöpfungskette unserer Gesellschaft beträchtlichen Schaden zu.
Trotz mehrfacher Aufforderungen weigern Sie sich konsequent, am öffentlichen Leben teilzunehmen.
Aus diesem Grund wird Ihnen die Staatsbürgerschaft dauerhaft aberkannt.
Bevor ich in der Angelegenheit eine endgültige Entscheidung treffe, gebe ich Ihnen bis zum 25. dieses Monats die Gelegenheit, sich zur Sache zu äußern.
Eine Auskunftspflicht besteht nur hinsichtlich der Angaben zur Person.
Einlassungen zur Sache sind freiwillig.
Sollte ich bis zu dem genannten Termin keine Nachricht von Ihnen erhalten haben, werde ich nach Aktenlage entscheiden.
Mit freundlichen Grüßen
Herbert Voss
„Treten Sie doch näher, Herr Gärtner! So, hier habe ich Ihren Vorgang. Sie wollen sich also zur Sache äußern?“
„Wenn ich wüsste, was Sie mir vorwerfen, könnte ich dazu Stellung nehmen.“
„Genau das ist offensichtlich Ihr größtes Problem, Ihr fehlendes Unrechtsbewusstsein.“
„Dann helfen Sie mir doch bitte! Was mache ich falsch?“
„Das habe ich Ihnen doch bereits schriftlich mitgeteilt. Sie weigern sich, am öffentlichen Leben teilzunehmen“, schüttelte der Beamte verständnislos den Kopf.
„Aber ich arbeite doch, in der Freizeit treibe ich Sport oder gehe im Park spazieren und im Sommer fahre ich in den Urlaub.“
„Das mag wohl sein, aber das weiß niemand.“
„Doch, die Leute, die ich treffe, wissen es.“
„Wem nützt das Wissen der Leute, wenn es nirgendwo dokumentiert ist und nur ein handverlesenes Grüppchen Zugriff darauf hat? Ich habe mal all die Daten zusammengefasst, die wir über sie gesammelt haben: Geburt, Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, Wohnsitz, Arbeit, Steuern, Führerschein, kein Eintrag im zentralen Verkehrsregister, Girokonto immer im Plus, Sie zahlen weder mit EC-Karte noch mit Kreditkarte, etwas Geld angelegt, tadelloses polizeiliches Führungszeugnis – weiter nichts …“
„Was ist denn so schlimm daran?“
Der Beamte schnappte nach Luft und schaute verzweifelt zur weißen Deckenbeleuchtung. „Mann, Sie gehen ja nicht einmal zum Arzt!“
„Ich bin nicht krank. Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich ernähre mich gesund und vermeide Stress ...“
„... und machen nichts aus Ihrem Leben.“
„Ich bin Dachdecker und leiste sehr gute Arbeit ...“
„... und arbeiten halbtags?“
„Ja.“
„Und was machen Sie den Rest des Tages?“
„Ich gehe im Wald spazieren, schaue mir die Wolken an und lausche den Vögeln in den Bäumen.“
„Mit Ihrer Qualifikation könnten Sie schon längst Meister sein.“
„Dann hätte ich mehr Verantwortung und damit auch mehr Stress …“
„... dafür aber mehr Geld ...“
„... das ich für Fastfood, Kaffee im Stehen, Wellness und Medikamente ausgeben müsste.“
„Sie haben keinen Fernseher, kein Internet, kein Telefon und Werbung wünschen Sie auch keine in Ihrem Briefkasten.“
„Das stimmt so nicht. Ich habe einen Festnetzanschluss.“
„Einen Festnetzanschluss hat er! Herr im Himmel! Wie bitte schön soll die Welt erfahren, wo Sie gerade sind und was Sie dort tun?“
„Wer sollte das wissen wollen und warum?“
„All diejenigen, die Ihr Leben bereichern könnten.“
„Aber mein Leben ist reich genug. Mir reicht es zumindest.“
„Woher wollen Sie das denn wissen, wenn Sie niemandem die Möglichkeit geben, Ihnen die Augen zu öffnen?“
„Warum das? Wenn ich etwas brauche, dann besorge ich es mir. Habe ich Hunger, hole ich etwas zum Essen und wenn meine Kleidung fadenscheinig ist, kaufe ich etwas zum Anziehen.“
„Ha, da sieht man mal, wohin Ihre Ignoranz Sie führt! Es gibt heute fantastische Algorithmen, die besser über Sie Bescheid wissen als Sie selbst, sofern man sie nur lässt.
Das nennt man Fortschritt … dem Sie sich verweigern“, trumpfte der Beamte mit leuchtenden Augen auf.
„Aber ich habe doch alles!“
„Haben Sie ein Auto?“
„Ja, einen Opel Kadett.“
„Der wird doch schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gebaut.“
„Mag sein, aber er funktioniert einwandfrei.“
„Und braucht dafür jede Menge Benzin.“
„Acht Liter in der Stadt und sechs, wenn ich über Land fahre.“
„Denken Sie doch mal an die Umwelt. Für 159 Euro im Monat bekommen Sie ein brandneues Modell.“
„Wie viel braucht der?“
„Fünf Liter laut Hersteller.“
„Und laut Erfahrung?“
„Acht Liter. Dafür hat er allen möglichen Schnickschnack. Sie können Ihren alten Wagen direkt eintauschen.“
„Was passiert dann mit ihm?“
„Der wird nach Afrika oder sonst wo hin verschifft ...“
„... und verbraucht dort acht Liter?“
„Sie sind mir ein rechter Erbsenzähler! Denken Sie lieber an all die Annehmlichkeiten! Navigation, Fahrassistenten, Einparkhilfe, Klimaanlage und so weiter.“
„Bräuchte man eine Klimaanlage in Afrika nicht dringender als hier bei uns?“
„Die da unten sind die Hitze gewohnt. Außerdem wird es bei uns auch immer heißer.“
„Wenn Sie es sagen.“
„Wie wäre es denn mal mit einer Reise, so übers Wochenende? Einfach mal irgendwo hinfliegen und etwas anderes sehen – nach Barcelona zum Beispiel.“
„Lohnt sich das denn?“
„Na klar. Für 45 Euro kommen Sie hin und zurück, plus zwei Übernachtungen sind Sie mit 98 Euro dabei, Frühstück inklusive. Das ist billiger als wenn Sie zu Haus bleiben.
Alle Welt fliegt dorthin.“
„Muss ziemlich voll sein die Stadt, wenn jeder dorthin fährt.“
„Für den Preis kann man nicht erwarten, beim Stadtbummel allein zu sein.“
„Was ist mit der Umwelt?“
„Denken Sie auch mal an sich, Umwelt hin oder her!“
„Ich weiß nicht so recht.“
„Eins ist mal sicher, so wie jetzt können Sie nicht weitermachen. Sie bestellen nichts online, laden keine Urlaubsfotos ins Internet hoch, schreiben keine Kommentare, Sie haben nicht einmal ein Profil in den sozialen Netzwerken. Mit Ihrem unsozialen Verhalten behindern Sie massiv Ihre Wertschöpfung.“
„Muss man das heute wirklich alles machen?“
„Muss man nicht, aber wissen Sie eigentlich, wie viel der Staat in Sie investiert hat? Kindergarten, Schule, Ausbildung, Kindergeld und so weiter. Und was geben Sie davon zurück? Früher wurden die Leute aufs Schlachtfeld geschickt, heute halten Sie den Wirtschaftskreislauf in Gang. So einfach ist das. Oder würden Sie lieber mit Mistforke und Dreschflegel bewaffnet gegen Kanonen marschieren und so Ihre Schuld an der Allgemeinheit begleichen?“
„Nein, das würde ich nicht wollen. Was muss ich tun?“