Vollkommen durchseucht

Die Freiheit der Kunst ist unverkäuflich

Ein Gemälde opfert sich für die Freiheit der Kunst - und der Kunstmarkt ist schockiert.
Sohle eines Armeestiefels
Bild von Thomas Wolter auf Pixabay

Eine Kunstausstellung mit Folgen

Durch einen glücklichen Zufall gelangt das Werk eines bislang unbekannten Malers an die Öffentlichkeit. Eine groß aufgezogene Ausstellung schlägt Wellen in der Kunstszene, doch die Gemälde entwickeln ein unheilvolles Eigenleben. Plötzlich steht nicht nur die nackte Existenz der Kunst-Investoren weltweit auf dem Spiel, sondern das gesamte künstlerische Schaffen des Menschen und niemand will die Verantwortung übernehmen.
Lesezeit: 19 Minuten

Kurzgeschichte: Vollkommen durchseucht

„Hey, warte mal!“
Der infernalisch heulende Dieselmotor verstummte und die Baggerschaufel verharrte lauernd über der Grube. Schlieriges Schmutzwasser tropfte von den eckigen Zähnen auf die roten Ziegelsteine des Kellergeschosses, die das stählerne Monster zu einem großen Haufen zusammengekratzt hatte.
„Was ist das da unten im Bauschutt?“
An einer Flanke des Trümmerhaufens hatte sich eine verbeulte Metallkiste verkeilt. Der Handlanger, der den Staub an der Abbruchstelle niedersprenkelte, spritzte mit seinem Wasserschlauch den Dreck von dem überraschenden Fund.
„Keine Ahnung. Muss in die Wand eingemauert gewesen sein. Der Keller war leer, als wir mit dem Abriss angefangen haben.“
„Holt das Ding mal rauf!“
Der mächtige Baggerarm erwachte aus seiner Starre und tauchte hinunter ins Bauloch. Die Schaufel lupfte eine Kante der Kiste an, rüttelte sich zärtlich unter die Truhe, barg sie aus der Grube und stupste sie dem Architekten vor die Füße.
„Hm, komplett zugeschweißt. Die müssen wir aufschneiden.“
„Und was ist, wenn sie uns dabei um die Ohren fliegt? Da ist ein Totenkopf eingestanzt.“
„Scheiße! Die legen uns noch die ganze Baustelle still. Buddelt sie irgendwo anders wieder ein!“
„Das werden Sie sicher nicht machen!“, meldete eine energische, nicht allzu hoch geschossene Frau ihr Veto an. Sie war gerade erst vom großen Parkplatz aus über das Abbruchfeld herbei getänzelt. Ein blauer Schutzhelm schwebte auf ihrer Festiger gestärkten Mähne. Mit ihrem rubinrot lackierten Zeigefingernagel deutete sie kompromisslos auf den seltsamen Fund.
„Wer in aller Welt sind Sie denn?“
„Annalena Lichtermann. Ich bin die Kulturreferentin der Stadt und für dieses Objekt verantwortlich. Ich lasse die Truhe abholen. Danach sehen wir weiter!“

Der Roboter des Räumkommandos surrte auf die ramponierte Kiste in der Mitte des leeren Raums zu. Die fünf Meter dicken Betonwände des Schutzbunkers rundherum würden auch einem Angriff mit atomaren Sprengköpfen standhalten. Ein mit Ölwasser gekühlter und geschmierter Bohrer fraß sich unbeirrt durch den Deckel und brach ins Innere durch. Ein zweiter Roboter fädelte eine Kamera in das kleine Loch ein.
„Da sind bloß Bilder drin.“
„Was denn für Bilder?“
Nachdem die Truhe aufgeschnitten war, sicherten die Experten rund um die Kulturreferentin zwölf weiße Leinwände und eine dreizehnte, auf die eine aufgeplatzte, schwarze Bohnenschote und ein gelber Armeestiefel in Ölfarbe gemalt waren. Allesamt waren sie mit Innozenz und einer Jahreszahl zwischen 1924 und 1927 signiert.
Weder Frau Annalena Lichtermann noch irgendjemand anderes im Kunsthistorischen Institut hatten je etwas von dem Maler gehört. Auch konnte man sich keinen Reim darauf machen, warum die Bilder im Kellergeschoss eines Wirtschaftsgebäudes des alten Sanatoriums für psychische Erkrankungen eingemauert worden waren. Nachforschungen in den alten Patientenakten führten die Projektgruppe „Altes Liphardsches Haus“ zu einem Leopold Bräker, dem jüngsten Sohn eines Importeurs exotischer Gewürze, der von 1924 bis zu seinem selbstgewählten frühen Ableben 1927 in der Anstalt behandelt wurde.
Laut den Unterlagen hatte man ihm die Malerei verordnet, um seine Schizophrenie zu therapieren. Er litt unter massiven Wahnvorstellungen, die ihn in Schüben überfielen. Zog ein Gewitter auf, deutete er das als Zeichen für den bevorstehenden Weltuntergang. Schien die Sonne, beschuldigte er fremde Mächte, den Planeten verdampfen zu wollen. Zwitscherte ein Vogel im Baum vor seinem Zimmer, krabbelte er unter sein Bett, weil er meinte, die Regierung wolle ihn ausspionieren.
Manchmal rannte er unruhig umher, schaute durchs Fenster, raufte sich die Haare und kratzte sich die Haut blutig. Dann wieder hockte er stundenlang reglos in einer Ecke und glotzte auf die leere Leinwand, bis er schließlich aufsprang, zum Pinsel griff und wie besessen malte, wobei er argwöhnisch über die Schulter blickte, dass ihn auch niemand beobachtete.
In den Perioden zwischen diesen Schüben war er ein sympathischer Mann, der bei der Belegschaft sehr beliebt war. Heilen konnte man ihn am Ende zwar nicht, doch die Bilder, die er gemalt hatte, beeindruckten die Anstaltsleitung nicht zuletzt auch, weil ein Schweizer Psychiater erst ein paar Jahre zuvor ein aufsehenerregendes Buch über einen geisteskranken Künstler veröffentlicht hatte. Als roh, spontan und nicht verkopft sah man in dessen Ausdrucksform einen neuen, unverbildeten Zugang zur Kunst.
Ganz im Gegensatz zu dieser Lehrmeinung waren Bräkers Bilder nicht verworren, expressiv oder überladen, sondern klar strukturiert und bis ins kleinste Detail durchkomponiert. Anders als die anderen psychisch kranken Künstler fürchtete er die leere Fläche nicht. All das machte seine Werke sowohl vom psychopathologischen als auch vom ästhetischen Standpunkt aus einzigartig. So beschloss man, sie gegen seinen ausdrücklichen Willen im Namen der Wissenschaft zu den anderen Gemälden im Foyer der Anstalt zu hängen, statt sie zu verbrennen.

Mehr als neunzig Jahre später waren sie nun also unter spektakulären Umständen wieder aufgetaucht und sollten die Kunstwelt erschüttern.
„Frau Annalena Lichtermann, Sie haben sich als Kuratorin des Landesmuseums für Moderne Kunst für die Aufnahme der bei Bauarbeiten entdeckten Gemälde Leopold Bräkers in die Dauerausstellung des städtischen Museums eingesetzt. Eine umstrittene Entscheidung, die nicht von allen Mitgliedern des Verwaltungsrates mitgetragen wird.“
„Einige meiner Kollegen sträuben sich, dem Werk eines psychisch Kranken denselben Stellenwert zuzuschreiben wie dem eines etablierten Künstlers. Sie sehen darin eine Säkularisierung des musealen Auftrags.“
„Da sind Sie anderer Meinung?“
„Ganz und gar nicht. Ich will nur nicht länger leugnen, dass sich das Museum viel zu lang schon als Gotteshaus geriert, in dem nur Reliquien des institutionalisierten Kunstschaffens verehrt werden. In letzter Konsequenz führen wir mit unserer Sonderausstellung den musealen Auftrag seiner eigentlichen Bestimmung zu.“
„Die da wäre?“
„Eine Bestandsaufnahme menschlichen Kunststrebens zu präsentieren – und zwar aller Menschen. Wir müssen endlich damit aufhören, nur den paar Wenigen aus dem Kunstbetrieb, die wir gerade vermarkten wollen, das Etikett der hohen Kunst zu verpassen und alle anderen auszusperren.“
„Dann hängen also demnächst auch Kindermalereien in den Museen? Oder Kritzeleien, die während Meetings zu Papier gebracht wurden, um die aufkommende Müdigkeit zu vertreiben?“
„Was wäre dagegen auszusetzen? Warum sollte der flüchtige Handstreich eines hochgejubelten Künstlers mehr zum gesamtgesellschaftlichen Kulturstreben beitragen, als der unschuldige Blick eines kleinen Kindes auf die Welt?“
„Würde das nicht das Ende der Kunst bedeuten?“
„Die Kunst stirbt nicht, höchstens der Markt. Wir müssen die Kunst den Menschen zurückgeben. Sie darf nicht zum reinen Investitionsobjekt verkommen, denn genau das passiert mit Hilfe des Museumsbetriebs schon viel zu lang.“
„Ich glaube, das müssen Sie unseren Zuschauern genauer erklären.“
„Nun, die Arbeit eines Museums ist naturgemäß rückwärtsgewandt. Indem wir einen Künstler ausstellen, bestätigen wir nicht nur seinen derzeitigen Marktwert, wir steigern ihn sogar noch. Trotz alledem stehen wir nur am Ende der Wertschöpfungskette. Das große Geld wird woanders gemacht.“
„Verrät der Künstler also seine Kunst, wenn er Geld damit verdient?“
„Genau so wenig wie ein Fußballspieler seinen Sport verrät. Für manche werden jedoch Abermillionen gezahlt, die sie auf dem Spielfeld einfach nicht wert sein können. Mit ihrer Verpflichtung kurbeln sie aber das Clubmarketing kräftig an und spielen so die Investitionen anderweitig wieder ein.“
„Teure Kunstwerke beflügeln also den Kunstmarkt?“
„Unbedingt. Der Markt braucht die Sensationen aus den Auktionshäusern. Mit jedem Verkaufsrekord wertet sich der gesamten Kunstbetrieb selbst auf. Derart gedopt schaukelt sich das System immer höher und zieht noch mehr frisches Kapital an. Ein echtes Perpetuum Mobile, wenn Sie so wollen.“
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, vermitteln die Museen also zwischen Kunst und Kommerz?“
„Wie man's nimmt. Wir sind wohl eher die Drückerkolonne des Kommerz. In unseren heiligen Hallen hängen nur Opfergaben, die man uns großzügigerweise überlässt, damit wir den Kapitalwert der Kunstwerke, die hinter dicken Tresortüren lagern, garantieren und mehren. Gleichzeitig verklären wir den Blick auf die nüchternen Mechanismen des Kunstmarkts mit einem Schleier der Intellektualität und verpassen ihnen so das Etikett der Exklusivität.“
„Und mit den Bildern Leonhard Bräkers wollen Sie den Teufelskreis durchbrechen?“
„Das ist korrekt. Jetzt sind wir dem Markt endlich einmal einen Schritt voraus. Mit unserer Ausstellung unterbreiten wir den Besuchern das Angebot, sich selbst ein Urteil über das zu bilden, was als Kunst gehandelt wird.“
„Warum hängen die Bilder Bräkers zwischen einem späten Mondrian und einen späten Kandinsky?“
„Nun, mit diesem Kunstgriff holen wir die renommierten Klassiker von dem Sockel ihrer Exklusivität und ermöglichen so einen ehrlichen Wettstreit von institutionalisiertem Kunstgeschmack und dem unvermarkteten Schaffenspotential eines Künstlers, der stellvertretend für all die vielen namenlosen Künstler steht, die Sie nicht kennen, weil wir sie Ihnen nicht zeigen.“
„Sie werden sich mit Ihrem Konzept nicht nur Freunde machen. Die Kritiker werden über sie herfallen.“
„Das hoffe ich doch. War es nicht schon immer die Aufgabe der Kunst, zu provozieren, den Zeitgeist infrage zu stellen? Was spricht dagegen, dass sie sich jetzt selbst entlarvt?“
„Genau genommen besteht das Werk Bräkers ja nur aus einem einzigen Gemälde und zwölf zwar signierten, ansonsten aber unbemalten Leinwänden ...“
„... die wir als ein Ensemble präsentieren.“
„Sicher, aber ist das als Werkausstellung nicht etwas dünn?“
„Wenn Sie jedes einzelne Bild für sich betrachten, schon. Aber als Gesamtkomposition … Die Dreizehn gilt in vielen Kulturkreisen als Unglückszahl. Betrachten Sie jedoch einmal die religiöse Komponente! Jesus und seine zwölf Apostel. Die Zwölf sind unbeschriebene Blätter, die einzig durch das Wirken des Erlösers aus ihrer Bedeutungslosigkeit gerissen werden.“
„Nun, so unbeschrieben waren die Blätter ja wohl nicht: Matthäus, der Zöllner, Paulus, der vorher der Saulus war ...“
„Das ist es ja gerade. Mit Jesus wird ihre zweifelhafte Vergangenheit belanglos und sie schreiben ihr Leben vor dem Hintergrund der Offenbarung ganz neu.“
„Und Bräker ist die Offenbarung, die die Kunst zurück ins Paradies führen soll? … Mit dieser gewagten Hypothese verabschieden wir uns von unseren Zuschauern und wünschen Ihnen morgen eine erfolgreiche Ausstellungseröffnung.“

veröffentlicht: 15.12 2024, überarbeitet: 17.12 2024
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