Gipfel der Wahrheit
Beichte in schwindelnder Höhe
Ich weiß, was du getan hast
Ein großer Auftrag, endlich mal wieder. Christian steigt in die letzte Gondel, die ihn hinauf ins Berghotel bringen soll. Dort will er das Geschäft abschließen und sein Leben wieder in die richtige Spur bringen. Doch in der Gondel sitzt ein Fremder, der ihm eine schockierende Beichte ablegt und dafür absolut keine Absolution erwartet - und der Mann ist bewaffnet.Kurzkrimi: Gipfel der Wahrheit
Die Rollen des Koffers klackten über die Fugen der hellgrauen Platten bis zur Glastür. Sie war geschlossen. Dahinter zog ein Mann in dunkelblauer Steppjacke auf einem elektrischen Karren seine Kreise und wischte den Boden. Er hörte das Klopfen nicht. Beim Wenden schaute er her und stoppte die Maschine.
„Sind Sie Christian Linnemann?“
Der Geruch von Schmierseife schlug dem Mann mit dem Rollkoffer entgegen. Er nickte und zeigte das VIP-Ticket vor. Der in der Steppjacke musterte ihn von Kopf bis Fuß wie einen Sträfling bei der Kleiderausgabe.
„Sie werden oben bereits erwartet“, meinte er und verzog dabei keine Miene. Dann führte er ihn zur Kabine, in der bereits ein anderer Mann hockte.
Die Tür glitt automatisch zu und mit einem leichten Ruck zog die Gondel an. In seinem Rücken sirrte das Drahtseil über das Rad. Als sie hinter der Station über die Spitzen der Tannen hinweg glitten, wurde es still.
Der Mann gegenüber, etwa Mitte vierzig so wie er selbst, war ohne Gepäck unterwegs. Er nickte knapp auf seinen Gruß hin und schaute weiter den Berg hinauf. Der erste Pfeiler, die Aufhängung schlüpfte durch die Rollen, nicht mehr als ein kraftloses Schütteln der Kabine. Der Fremde schaute durch ihn hindurch, das Gesicht ins Licht des Abendrots getaucht. Ein paar Minuten noch, dann kratzten die Bergzinnen an der Sonne, bevor sie hinter dem Massiv versank.
„Übernachten Sie auch oben im Hotel?“
Der Fremde schüttelte den Kopf.
Die Einladung kam zur rechten Zeit. Endlich ein großer Auftrag, nachdem gerade alles den Bach runterging. Ein seltsamer Typ, der da. Jeans, kurzer Lodenmantel, Wanderschuhe ohne Schaft. „Was will er auf dem Berg?“ Die Seilbahn war der einzige Weg hinunter und dies die letzte Fahrt. Egal, der Mann war nicht sein Problem.
Die Gondel tauchte in den Schatten der Felsen, dann hielt sie plötzlich an. Christian sah hinaus. An der Almhütte unter ihnen schalteten sie die Außenbeleuchtung ein. Ein Skifahrer stieg auf die Bretter und wedelte den Hang hinunter.
„Kommt das öfter vor?“
Der Fremde zuckte mit den Schultern. Christian wählte die Nummer der Station.
„Nur ein technischer Defekt. Der Monteur ist in einer halben Stunde da.“ Christian schaute auf die Uhr. „Sie wollen den Spa-Bereich des Hotels erneuern. Ich soll den Auftrag für meine Firma reinholen.“
„Das sollte mich wundern, denn der ist gerade erst renoviert worden.“
Die ersten Worte, die der Fremde von sich gab, zogen Christian den Stecker. Er öffnete die Webseite des Hotels. Verdammt, er hatte recht. Auf den Fotos sah alles ganz neu aus. Er wählte die Nummer. „Das Zimmer ist bezahlt, aber der Termin ist nicht eingetragen. Wissen Sie, ich könnte das Geld gut gebrauchen.“
„Je größer die Verzweiflung, umso höher ist die Bereitschaft zum Risiko.“
Er hätte sich informieren müssen, doch die Aussicht auf Erfolg hatte ihn geblendet. Er war nicht mehr bei der Sache, seit ein paar Monaten schon. Seine Gedanken, sie flitzten wie Flipperkugeln durch den Kopf und er konnte keinen einzigen fangen.
„Da treibt jemand viel Aufwand, um Sie auf den Berg zu holen.“
„Glauben Sie, es ist eine Falle?“
„Gäbe es einen Grund dafür?“
Die Gondel schaukelte gemächlich am Seil.
„Kennen Sie den Besitzer des Hotels?“
„Der hat gerade ganz andere Sorgen als einen neuen Spa-Bereich. Er würde das Gebäude abbrennen, wenn er dafür seine Tochter wiederbekäme.“ Der Fremde schlug den Kragen seines Mantels hoch. „Haben Sie Familie?“
Christian zog den Reißverschluss der Jacke auf, die Stirn kochte. „Eine Frau und eine Tochter.“ Marie, sie stellte Fragen, er aber fand immer seltener Antworten, die sie beruhigten.
„Wie alt?“
Lilly nabelte sich zusehends von ihm und Marie ab. „Sie ist sechzehn.“
„Genau wie das verschwundene Mädchen. Dann können Sie sich bestimmt in die Lage des Hotelbesitzers versetzen. Er wirft sich vor, dass er ihr nicht zugehört hat, mehr ans Geschäft als an sie gedacht hat. Seine Frau gibt ihm die Schuld. Sie hat ihn verlassen.“
„Bestimmt kommt das Mädchen zurück und alles wird gut“, meinte Christian.
„Ja, vielleicht. Er klammert sich an die Hoffnung, aber insgeheim weiß er wohl, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist.“