Eine spannende Geschichte voller Mysterien über ein verpfuschtes Leben - wenn das Leben eine Busfahrt ist, an welcher Haltestelle steigen wir aus?
Ein Busfahrer wechselt die Seiten
Ralph hatte nie viel Glück in seinem Leben, doch in seinem Job als Busfahrer hat er endlich zu sich gefunden. An seinem freien Tag wechselt er die Seiten und reist als Passagier auf seiner Linie mit. Auf der Strecke liegt eine Haltestelle, an der er als Fahrer noch nie anhalten sollte. Heute will er herausfinden, warum dort noch nie jemand ausgestiegen ist.
Die Geschichte ist im März 2023 in der Anthologie "Himmel und Hölle - Siegerbeiträge des Stockstädter Literaturwettbewerbs 2022/23" im glotzi Verlag erschienen.
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Nächter Halt Wenzelsmühle
Ein Transporter hielt auf der äußerst rechten Fahrspur und ein Paketbote stieg aus. Er öffnete die hinteren Türen und trug einen Stapel Kartons in ein Fahrradgeschäft. In den Etagen über den Schaufenstern der Läden hatten sich Anwaltskanzleien, Arztpraxen, die Schüler-Nachhilfe und andere Dienstleister breitgemacht - kein Mensch wohnte mehr in der Stadt. Das Rolltor zwischen zwei Geschäften surrte hoch. Ein kurzes, sattes Hupen nagelte Ralph ans Pflaster und ein Porsche mit heruntergelassenem Verdeck schnitt seinen Weg. Ein gebräunter, glattrasierter Mann mit Sonnenbrille und dunkelblauem Anzug lenkte den Wagen gleichgültig in die Tiefgarage. Eigentlich hätte sich Ralph längst daran gewöhnen müssen. Kaum hatte er Fahrt aufgenommen, kam jemand und bremste ihn aus.
Die Tische auf dem Platz beim Brunnen waren fast alle besetzt. Eine junge Bedienung trug Kuchen zu den Gästen. Der Laden lief gut. Der Besitzer war stets froh gelaunt und lächelte viel. Die Kinder merkten gleich, dass sie sich nicht vor ihm fürchten mussten. Er winkte seiner Frau hinterher. Sie trug einen hellen Sonnenhut. Sie ging immer noch gern auf die Krankenstation, obwohl sie eigentlich nicht mehr arbeiten musste. Sie drehte sich um und warf ihrem Mann einen Kussmund zu. Ralph wollte weitergehen, doch er fürchtete den ersten Schritt. Der raue Belag schmirgelte unter seinen Ledersohlen, als er den Fuß vorschob. Die Frau hatte ihn nicht bemerkt. Ihr Blumenkleid flatterte in der warme Brise fröhlich um ihre Knie herum. Sein Kopf eilte voraus, doch die Beine versagten ihren Dienst. Jetzt wandte sie sich der Einkaufspassage zu. Schweiß sammelte sich in seinen Stirnfalten. Er biss die Zähne aufeinander und holte den zweiten Fuß vor. Au, verdammt! Ein harter Stoß traf seinen Oberschenkel. Ein kleiner Junge auf einem Laufrad torkelte kreischend davon. Die Mutter lächelte ihn abgelenkt an und rannte dem hellblauen Helm, auf dem ein bunter Drache Feuer spie, hinterher. Die Frau mit dem Sonnenhut beugte sich zu dem Jungen hinunter und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ralph war auch schon Opa, doch das wusste sein Enkel nicht. Die Frau schaute rüber. Der Hut warf einen Schatten auf ihr Gesicht. Sie trug die Haare jetzt offen.
Ralph drehte sich weg und schlüpfte hinter den gläsernen Windschutz. Er tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn und richtete das weiße Oberhemd. Eine Bank gab es hier nicht. Die Busse hielten im Zehn-Minuten-Takt, da lohnte das Setzen nicht. Er starrte in die leeren Gesichter der Wartenden. Glücklich sah keiner von ihnen aus. Er war zumindest zufrieden - so wie die vielen anderen, die ihr Leben vor sich herschoben, bis sie plötzlich merkten, dass das Wenige, das sie hinter sich hatten, mehr war, als das, was sie noch zu erwarten hatten. Glück war nur eine Einbildung, mit der man die Strapazen des Daseins Rosarot übertünchte. Und dennoch ...
Der Bus hielt, aber niemand rührte sich. Er knöpfte das Hemd am Kragen auf, das Schlucken fiel ihm schwer. Gleich würde der Fahrer Gas geben und wieder losfahren. Ein junger Mann, Baseballkappe und Ohrstöpsel, raste auf einem E-Roller direkt auf den Bussteig zu. Nur noch ein paar Meter und er war bei ihm. Seine Knie schlotterten plötzlich und sein Atem rannte ihm davon. Ralph kniff die Augen zu und sprang aufs Trittbrett.
Zischend schlossen sich die Falttüren in seinem Rücken und er atmete tief durch. Der Motor brummte sonor vor sich hin und die Schwingungen unter seinen Füßen glätteten sein aufgewühltes Gemüt. Ganze drei Plätze waren besetzt. Nicht jedes Leben war vollgestopft. Er ging durch den schmalen Gang nach hinten. Die Fahrgäste warteten geduldig auf die Weiterfahrt. Vorn rechts rieb sich eine junge Frau die Augen. Sie trug ein farbenfrohes Kleid aus weichem Stoff, der, selbst am Haken in einem engen Spind aufgehängt, nicht knitterte. Sie hatte die Haare mit einer breiten Klammer hochgesteckt. Unten an einem Kunststoffriemen baumelte ein Ausweis, der ihr Gesicht über dem Kragen eines hellblauen Kittels zeigte. Um ihren Zeigefinger herum klebte ein braunes Pflaster. Ihre Nägel waren gepflegt, aber nicht lackiert. Einer war am Nagelbett blau. Sie lächelte ihn an, aber nicht so, wie eine Empfangsdame am Hoteltresen die Gäste begrüßt. Nein, sie lächelte ein herzliches, wenn auch erschöpftes Lächeln, das nur eine freundliche Natur in das Gesicht eines Menschen zaubern kann, der zu geben gewohnt ist, ohne etwas dafür zu verlangen, sich aber still und bescheiden nach ein bisschen Anerkennung sehnt - so wie seine Jenny. Warum hatte sie sich damals nicht um ihn gekümmert, als er im Krankenhaus gelegen war? Wo sie doch auch dort arbeitete? Sie hatten ihm eine Maske über die Nase gestülpt, ihn an Schläuche angeschlossen und mit Drähten verkabelt. Sie hatte sich immer mehr um andere gesorgt als um ihn. Er nickte der Krankenschwester zum Gruß zu.
Ein paar Reihen hinter ihr, auf der anderen Seite, streckte ein Mann sein Bein in den Gang aus. Er blätterte in einem großformatigen Lehrbuch. Zwischendurch schielte er über den Seitenrand hinweg zu der Krankenschwester. Als Ralph vor vielen Jahren seine Lehrstelle angetreten war, gab es noch etliche kleine Betriebe und das Handwerk war gefragt. Dann wurde fast nur noch in großen Fabriken gebacken. Er hatte von einem eigenen Café geträumt, in dem er die leckersten Kuchen, Torten und Pralinen der Stadt servieren wollte. Den Meister hatte er nicht gleich an die Gesellenprüfung angeschlossen. Er wollte erst genügend Erfahrung sammeln, weil er den besten Abschluss hinlegen wollte. Wenn man der Beste war, lief der Laden später von ganz allein. Außerdem gab es für einen jungen Mann ja auch noch ein Leben neben der Arbeit. Die Meisterprüfung war anspruchsvoll. Da ging man nicht mal eben so hin und holte sich seine Urkunde ab. Dann lernte er Jenny kennen. Ob der junge Mann dort in der Sitzbank wusste, welche Entbehrungen ihm sein künftiger Beruf abverlangen würde? Eine Gesichtshälfte von Brandnarben verstellt, tat er sich bestimmt schwer, eine Frau anzusprechen.
Ralph schob sich weiter durch den Gang. Ein kleines Mädchen kauerte sich hinter ihren Teddybären, den sie an ihre schmale Brust presste. Eine Schramme an ihrem Knie war fast schon wieder verheilt. Die nackten Füße in den Sandalen reichten kaum bis auf den Boden. Sie kaute nervös an den Nägeln. Augenringe warfen dunkle Schatten auf ihre zarten Wangen, die eigentlich fröhlich rot vom übermütigen Kinderspiel und naseweiser Lebensfreude strahlen sollten. Verängstigt schaute sie zu ihm hoch und rutschte auf den Sitz am Fenster rüber. Was für Eltern hatte dieses bedauernswerte Geschöpf nur, dass sie es mutterseelenallein auf die Reise schickten? Das hätte er seiner Kleinen niemals angetan. Ja, seine Kleine - sie war jetzt erwachsen und konnte auf sich selbst aufpassen. Aber war eine Tochter jemals alt genug, als dass sie ohne ihren Vater auskam? Er würde sie anrufen. Irgendwie würde er ihre Nummer schon herausfinden ...
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