Auf Haaresbreite
Ein phantastisches Großstadt-Märchen
Lass dein Haar herunter!
Fabian kaut gedankenverloren auf einer Butterbrezel herum und schaut dabei die Fassade eines Hochhauses hinauf. Hinter einem Fenster ganz oben entdeckt er plötzlich seine Traumfrau, doch zwischen ihm und seinem Rapunzel klafft ein tiefer Abgrund, der von einer bösen Zauberin bewacht wird. Aber Fabian wagt alles und stürzt sich kopfüber in sein aufregendstes Abenteuer.Urban-Fantasy-Märchen: Auf Haaresbreite
Ein leichter Wind ging immer zwischen den Wolkenkratzern zu beiden Seiten des Cityrings. Ein Taxi bremste auf dem Radweg und entließ einen Fahrgast. Ein behelmter Lastenradfahrer gab Handzeichen und scherte auf die Fahrbahn aus. Die nachfolgenden Wagen hupten aufgebracht. Endlich schaltete die Fußgängerampel auf Grün und öffnete eine Furt durch das Meer der motorisierten Vehikel. Fabian marschierte los. Die Dame mit der Gehhilfe neben ihm musste sich sputen, wollte sie das andere Ufer sicher erreichen.
Im Schaufenster von Bulgari klebte ein Plakat. Carmen. Die hängten nie etwas auf, das hatten sie nicht nötig, doch diese Aufführung war etwas Besonderes. Wer mit ihr werben wollte, musste dafür bezahlen. Valeria Visconti. Sie trat weltweit nur einmal im Jahr auf. Eine Karte kostete mehr als die Schmuckstücke in der Auslage.
„Zwei Butterbrezel, Robert!“
„Sonntag ist es soweit. Da sperren sie die Straßen rund um das Opernhaus.“ Der Mann hinter dem Verkaufsstand schüttelte den Kopf. „Was ein Theater um eine Sängerin!“
„Ihre Stimme soll überirdisch sein, erzählt man sich. Selbst die besten Aufnahmen können nicht ihr gesamtes Spektrum wiedergeben, sagen sie.“
„Trotzdem.“
Fabian biss in die Brezel und kaute die kühle Butter durch die Kruste. „Was ist eigentlich in dem Hochhaus gegenüber?“
„Keine Ahnung. Ich hab da noch nie jemanden reingehen sehen.“
Fabian tippte auf seinem Smartphone herum. „Seltsam. Laut Suchmaschine ist da ein Spielplatz.“
„Laut Suchmaschine ist Grönland auch der 51. Bundesstaat der USA“, lachte Robert.
Fabian sah an der Fassade hinauf. Die Sonne spiegelte sich auf den Scheiben. Ein paar Minuten noch, dann würde sie hinter den Dächern verschwinden. Mit den letzten Strahlen öffnete sich plötzlich ein Fenster ganz oben und eine Frau erschien darin.
„Robert!“ Fabian zeigte hinauf. „Robert!“
Doch der Brezelverkäufer kassierte gerade einen anderen Kunden ab. Oben schloss sich das Fenster wieder.
„Hast du das gesehen?“
„Was?“
„Die Frau. Sie ist einfach …“
Robert lupfte die Augenbraue.
„... vergiss es! Das verstehst du nicht.“
Fabian rannte los, durch die Unterführung, die Treppe wieder hoch, dann warf er sich in die Drehtür am Eingang. Er schob das Glas vor sich her und landete wieder auf dem Gehweg. Er probierte es noch einmal, doch das Gebäude spuckte ihn wieder aus.
Fabian sah auf die Uhr. Gleich musste sich das Fenster gegenüber öffnen. Der Lärm der Straße drang bis zu ihm aufs Dach hinauf. Drei, zwei, eins – drüben fuhr die Scheibe zur Seite und die Frau tauchte dahinter auf. Sie lächelte.
„Ich habe dich gestern gesehen“, schrie er hinüber.
Sie nickte, wobei der bauschige Wickel, der ihr Haar bedeckte, taumelte. Sie fasste sich in den Nacken und zog die Hand wieder vor. Dann wedelte sie einmal mit dem Arm und zu seinen Füßen spannte sich ein einzelnes Haar hinüber zu ihr. Sie winkte ihm zu. Fabian trat an die Dachkante und starrte in die Tiefe.
„Vertrau mir! Es ist der einzige Weg.“ Ihre liebliche Stimme ließ das Haar vibrieren, als ob sie sich daran entlang hangelte.
Fabian senkte das Kinn, die Knie wurden weich. Verzweifelt schaute er ihr in die Augen, dann hob er die Schultern. Die Scheibe fuhr zurück und der letzte Sonnenstrahl brach sich auf der Träne, die ihre Wange hinunter kullerte.
Fabian setzte sich auf einen Lüftungsschacht und stampfte den Fuß auf. „Das ist doch Wahnsinn! Auf einem Haar balancieren! Bin ich etwa Spiderman?“ Über ihm blinkten die roten Lichter eines Flugzeugs, am Horizont die Leuchtreklame einer Bank. Er starrte rüber zum Fenster, doch das blieb dunkel. Der Lärm der Straße ebbte ab. Die Uhr zeigte Mitternacht. Fabian raufte sich die Haare und wandte sich dem Treppenaufgang zu. Plötzlich öffnete sich die Tür. Er sprang hinter die Lüftung und duckte sich. Zwei breitschultrige Männer traten aufs Dach, in der Mitte hinter ihnen eine verschleierte Frau in einem Kleid aus dunkelroter Seide. Die Frau schritt auf die Dachkante zu. Das Fenster gegenüber warf jetzt ein schwaches Licht in die Nacht. Die Verschleierte setzte den Fuß in die Leere und wandelte schwerelos durch die Luft zur anderen Seite. Fabians Kinnlade klappte herunter.
Die Stunden vergingen. Die Männer standen regungslos bei der Tür. Als der Morgen graute, kam die Frau zurück. Fabian folgte den Dreien aus dem Gebäude hinaus. In einer Gasse öffneten sie ihr die Tür einer Limousine. Ein Windzug wehte ihren Schleier vom Gesicht. Es war die unvergleichliche Valeria Visconti!